«Verrückt» oder «normal»: Wer bestimmt das eigentlich?
Die psychiatrische Klinik Sonnenhalde in Riehen sucht die Debatte zu psychischer Gesundheit und gesellschaftlichen Normen.
Was ist verrückt? Was ist normal? Und wer hat das Recht, dies festzulegen?
Wer bei der Sonnenhalde in Riehen vorbeikommt, wird beim Eingang neuerdings mit dieser Frage konfrontiert. Auf einer grossen Wandinstallation steht dort – je nach Standort und Blickwinkel – entweder «verrückt» oder «normal». Eine einfache Wortspielerei, die aber philosophisch und im Leben des Einzelnen weitreichend ist. Und vor allem: die den Betrachter herausfordert.


Dass die Menschen einen Moment innehalten und ihre eigenen Denkmuster überprüfen, sei genau das Ziel, sagt Sonnenhalde-CEO Anja Oswald im Gespräch mit Prime News. «Wer erlaubt sich überhaupt zu sagen, dass jemand verrückt ist – und wer, dass jemand normal ist?». Weiter sagt Oswald: «Verrückt ist keine Diagnose. Es ist ein gesellschaftliches Vorurteil basierend auf gesellschaftlichen Normen.»
Kooperation mit dem Historischen Museum Basel
Die Gesundheitsinstitution in Riehen feiert in diesem Jahr ihr 125-jähriges Bestehen. Bereits etwas früher, im September 2024, eröffnete das Historische Museum Basel die Sonderausstellung «verrückt normal», die bis im Sommer 2025 zu sehen war.
Thematisiert wurde dabei die Geschichte der Basler Psychiatrie der letzten 150 Jahre. Ein Schwerpunkt lag in der Auseinandersetzung, wie sich die Grenze zwischen «psychisch gesund» und «psychisch krank» im Laufe der Zeit verschoben hat.
Als Oswald das Historische Museum Basel besuchte, war sie überrascht. «Die Ausstellung konzentrierte sich fast ausschliesslich auf die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Dabei fällt der Sonnenhalde in der Schweiz eine Pionierrolle im humanen Umgang mit psychisch erkrankten Menschen zu.»
Oswald suchte das Gespräch mit Ausstellungs-Kuratorin Gudrun Piller, woraus die Idee für eine Zusammenarbeit entstand. Teile der Ausstellung wurden an die Sonnenhalde übergeben: nebst der erwähnten «verrückt normal»-Installation gehörte dazu auch ein bebilderter Zeitstrahl der Geschichte der Basler Psychiatrie, der nun – ergänzt mit historischen Beiträgen der Sonnenhalde – in der Hybrid-Tagesklinik am Aeschengraben gezeigt wird.


Ebenso fand eine aufwändig gestaltete Schubladenwand mit 33 Diagnosen den Weg zur Sonnenhalde in Riehen. Sie soll zum Ausdruck bringen, wie sich Diagnosen und gesellschaftliche Haltungen verändert haben – und wie sehr Psychiatrie immer auch ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Zeit ist.
Kuratorin Gudrun Piller freut sich: «Es ist schön zu wissen, dass Teile unserer Sonderausstellung bei der Sonnenhalde weiterführende Verwendung finden und nicht entsorgt werden müssen. Das ist auch ein starkes Zeichen punkto Nachhaltigkeit», sagt sie zu Prime News.
Die Wand löst auch Widerstände aus
Die «Schubladisierung» von Menschen und ihrem Verhalten beschäftigt auch Johannes Beck, Chefarzt der Sonnenhalde. «Die Kategorisierung von verrückt und normal wurde häufig missbraucht – um Menschen zu kontrollieren oder mundtot zu machen», meint er nachdenklich. «Heute würdigen wir die Vielfalt seelischen Erlebens viel differenzierter. Entscheidend für die Frage, ob eine Erkrankung vorliegt, ist, ob ein Mensch unter bestimmten Ausprägungen leidet und dadurch in seinem Leben eingeschränkt ist.»
Auch die neue Installation beim Eingang spielt mit solchen Zuschreibungen. Viele Passantinnen und Passanten würden stehen bleiben und die Stirn runzeln, erzählt Oswald. Es habe Irritationen und Widerstände gegeben – auch beim Personal.
«Manche fragen sich, ob wir uns selbst oder andere damit meinen. Doch genau darum geht es: Die Wand spiegelt zurück. Jeder, der sie betrachtet, wird Teil einer Auseinandersetzung über die eigenen Paradigmen und wie er oder sie die Welt seht. Was gehört in meinem Weltbild noch zur Normalität?»
Für Beck ist die Verbindung von Kunst und Psychiatrie entscheidend: Die Wand solle Diskussionen auslösen, sagt er. «Es ist das Beste, wenn man ins Gespräch kommt, wenn man reflektiert. Wer die Wand betrachtet, muss sich fragen, warum er etwas für verrückt hält – und vielleicht entdeckt er dabei Aspekte bei sich selbst, der Politik oder auch der Gesellschaft.»

Debatte und Dialog fortsetzen
Die Sonnenhalde hat sich vorgenommen, die im Jubiläumsjahr angestossene Debatte fortzuführen. Zum Welttag der psychischen Gesundheit am 10. Oktober lädt sie Mitarbeitende, Patientinnen und Patienten sowie Interessierte zu Workshops ein. Dort werden die Begriffe «verrückt» und «normal» künstlerisch bearbeitet und ergänzt.
«Vielleicht setzt jemand ein Fragezeichen, vielleicht schreibt jemand ein neues Wort darüber», sagt Beck. «Entscheidend ist, dass ein offener und respektvoller Austausch stattfindet.»
Für Oswald geht es auch um Grundsätzliches, wie sie unterstreicht. «Es ist doch so: Wer sich Hilfe sucht, zeigt Stärke und Mut. Viel gefährlicher ist es, Probleme zu verdrängen und nach aussen so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ist es nicht verrückt, dass jene als 'normal' gelten, die dies tun? Wir müssen weg von der Defizitorientierung hin zur Ressourcenorientierung.»
Jeder Mensch sei einzigartig und bringe Fähigkeiten und Potenziale mit, sagt Oswald. «Ist es nicht unsere Aufgabe als Gesellschaft, Wege zu finden, dass jeder – unabhängig von der Norm - seinen ganz persönlichen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann?»
Bezogen auf die Wand, erklärt es Oswald auch noch so: «Wenn man den Weg hinauf zur Klinik läuft, liest man ‘normal’. Wenn man hinuntergeht, steht dort ‘verrückt’. Wie interpretieren Sie diese Information? Für mich heisst das: Wer in die Sonnenhalde kommt, um sich Hilfe zu suchen, verhält sich gesund und 'normal'. Wer hingegen einfach vorbeiläuft und seine Probleme weiter verdrängt, riskiert seine Gesundheit. Ist nicht das ein bisschen verrückt?»
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