«Ein Taylor Swift-Abend? Wenn die Qualität stimmt!»
Jan Schultsz ist Chefdirigent des Collegium Musicum Basel. Warum er Youtube für gut und die Musik für lebensnotwendig hält.
Den Überzeugungstäter merkt man ihm nicht gleich an, wenn er in «On»-Sneakers in der Teufelhof-Bar sitzt und «Champions League»-Vergleiche macht. Der holländische Sing-Sang des gebürtigen Amsterdamers wirkt zudem charmant, gerade wenn er von Strenge, Disziplin und Erziehung spricht.
Doch genau das ist seine Mission, die ihn antreibt als Chefdirigent des Collegium Musicum Basel (CMB). Mit ihm hat das CMB nicht bloss einen Hochschul-Professoren mit der Liebe zur Bildung gewonnen, sondern auch einen versierten Hornisten und Pianisten, der mit eigenen CD-Produktionen in Erscheinung getreten ist.
Jan Schultsz hat mit weltberühmten Orchestern, Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet. Bei aller Liebe zur Klassik und Romantik ist Schultsz umsichtig, treibt die Social Media-Strategie des CMB massiv voran und ist an Klassikfestivals (Engadin, Pilsen und anderen) beteiligt.
Im Interview lesen Sie, warum er «Queen»-Sänger Freddie Mercury liebt und unter welchen Umständen er zu einem «Taylor Swift»-Abend mit dem Collegium bereit wäre.
Herr Schultsz, warum sollen wir heute klassische Musik hören?
Die Menschen wollen zum Glück klassische Musik hören, sie wollen es auch heute – ich denke, vor allem in schwierigen Zeiten. Sie gibt dem Leben eine ganz besondere Dimension, wie eine Art Meditation. Ein neuer Raum öffnet sich.
Und was finden wir da?
Etwa Gefühle wie Trost oder Glück. Klassische Musik kann aber Gefühle in alle Richtungen vermitteln. Das ist sonst heutzutage schwierig zu finden. Das hängt auch mit Poesie zusammen, überhaupt mit Text!
«Freddie Mercury war ein unglaublich guter Komponist»
Jan Schultsz, Chefdirigent Collegium Musicum Basel
Mit Poesie?
Komponisten wie Schubert, Beethoven oder Brahms haben das Lied in Klaviersonaten oder Orchesterwerken weiterentwickelt. Ich sage das meinen Musikerinnen immer wieder: Die Komponisten haben ihren Werken einen Text zugrunde gelegt, einen Text mit Inhalt.
Warum aber hören wir heute eine Musik, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten komponiert wurde?
Gott sei Dank will unser Publikum auch Schostakowitsch oder Strawinsky aus dem 20. Jahrhundert hören. Aber, ja, dann kommt eine Grenze, so ab 1960, und dann wird Musik atonal. Und diese atonale Musik ist sogar für einen Liebhaber von klassischer Musik ein schwieriger Schritt. Vielleicht hat sie gefühlsmässig weniger Emotionen zu bieten als die tonale Musik.
Ihre Erklärung?
Ich glaube, es geht um die Beziehung zum Körper, um den Atem. Die klassische Musik lebt davon. Wir hören das ja auch beim Rocksänger Freddie Mercury. Der hatte diesen Atem auch, und darum trifft mich auch die Musik seiner Gruppe Queen im Gefühl. Mercury war ein unglaublich guter Komponist.
Warum spielt das CMB hauptsächlich bekannte Komponisten? Also Brahms, Schostakowitsch …
Ja, wir spielen Werke von bekannten Komponisten wie Dvorak, Tschaikowsky und Brahms und so weiter, aber dabei handelt es sich um Werke, die noch nie oder kaum je hier in Basel zu hören waren. Wer hat hier schon Schostakowitschs erste oder Tschaikowskys zweite Sinfonie gehört?
Ist das Ihre Strategie?
Es muss ja eine Art Berechtigung geben für unser Orchester. Das war für mich auch der Reiz, die Position als Chefdirigent vom CMB zu übernehmen. Und wir spielen Werke von grossartigen Komponisten, die man hier weniger kennt, oft in Programmen mit bekannteren Namen.
Zum Beispiel?
Wir führen etwa Kompositionen von Zdenek Fibich oder Ippolitov Ivanov auf. Weil es wunderschöne Musik ist, haben wir damit Riesenerfolge. Oder: Kennen Sie Amy Beach? Das war die erste amerikanische Komponistin. Wir führen ein Werk von ihr auf, zusammen mit einer Komposition von Elgar: Sea Pictures. Ist doch cool!
Wie überlebt ein Orchester ohne Subventionen im Streaming-Zeitalter?
Zum Beispiel indem wir sehr präsent auf Plattformen wie Instagram und Facebook sind. Das haben wir gepusht, weil das Orchester nur überleben kann, wenn wir modern sind. Diese Präsenz sorgt für Tausende von Likes, zehntausende von Ansichten, und das wirkt sich gleich in mehrfacher Hinsicht aus.
Wie?
Zum einen, weil unser Orchester viel mit jungen Solistinnen und Solisten arbeitet, die ebenfalls auf diesen Plattformen aktiv sind und unsere Arbeit in die ganze Welt hinaustragen.
Zum anderen?
… werden Künstlerinnen und Künstler auf unser Orchester aufmerksam. Und wir erreichen so ein sehr junges Publikum. Das funktioniert. Aber nur unter einer Bedingung!
Welcher?
Die Qualität muss stimmen. Das ist auch den jungen Leuten bei uns bewusst.
Wenn Sie einen Klang innerlich hören, und das Orchester bringt ihn nach dem fünften Mal nicht, werden Sie dann streng oder geben Sie es auf?
Ich würde nie aufgeben. Zum Glück kommt es aber eh nicht soweit. Das Orchester versteht selber sehr gut, wohin wir musikalisch gehen sollten. Sie suchen selber den Klang, und ich spüre bei denen den selben Ehrgeiz, den ich habe.
Arbeitgeber sagen über die jüngeren Generationen, die jungen Leute heute wollen mehr Freizeit und mehr Mitbestimmung. Merken Sie das auch in der klassischen Musik?
Da muss ich als Hochschulprofessor sprechen. Ich habe oft überlegt: bin ich zu streng? Ich sehe aber, was ich mit bestimmten Schülern erreicht habe, die ein grosses Ziel vor Augen hatten: Dass es eine Disziplin braucht, die man mit sich selbst entwickeln muss. So eine Erfahrung wird leider selten vermittelt, sie ist aber entscheidend.
Wie meinen Sie das?
Ich kam mit 20 Jahren nach Basel, meine Eltern waren gerade gestorben, ich hatte bereits in Amsterdam studiert, aber nun lag ich da auf dem Bett in meiner Wohnung am Claraplatz, war völlig allein und alle entscheidenden Fragen kamen hoch: Warum mache ich das? Für wen? Was ist meine Aufgabe? Und wie packe ich sie an? Und dabei erkannte ich erst: Du bist für dich selbst zuständig!
Und wie ist diese Erfahrung in Ihre Arbeit geflossen?
Als Hochschulprofessor bin ich bezahlt dafür, um Leute dort hinzubringen, wo sie hinwollen. Ich habe mir gesagt, es darf ein Student oder eine Studentin nicht das Zimmer verlassen, ohne ein Paket von mir zu erhalten, mit dem sie weiterkommen.
«Eine Katastrophe! Für das Collegium Musicum Basel ist sehr schwierig, die Aufmerksamkeit der Presse zu bekommen».
Jan Schultsz zur Mediensituation
Sie sind also: Lehrer?
Nein, ich bin ein Coach. Und es geht immer um dasselbe Thema: Disziplin. Wir sollten das machen, was in den Noten steht. Und dann kommt das Wichtigste: Das Management mit Dir selbst. Time-Management ist für uns Musiker das Wichtigste, um etwas zu erreichen.
Ihr ganzes Leben ist so?
Natürlich. Wenn ich als Dirigent vor einem Orchester stehe, bin ich je nach Perspektive auch immer allein: vor dem Orchester und vor dem Publikum. Da muss ich mich selbst supporten, coachen.
Empfinden die jungen Musikerinnen und Musiker die klassischen Stoffe anders als Sie?
Sie hören vor allem viel mehr Musik: auf Youtube! Es gibt Studentinnen und Studenten, die kennen alles, zum Beispiel auch Aufnahmen älterer Dirigenten wie Herbert von Karajan, Günter Wand oder Mariss Jansons. Mein Sohn, er ist 18 Jahre alt und Hornist, hört alles von Bruckner und Mahler. Er führt mir Sinfonien von Bruckner vor, und ich muss heraushören, wer da spielt. Grossartig!
Inwiefern ist Basel ein guter Ort, um klassische Musik zu spielen?
Ein wesentlicher Grund dafür, warum ich den Job beim CMB angenommen habe, war die Verbindung zwischen der FHNW, der Musikschule und dem Orchester. Das ist für die Musik ein perfektes Umfeld. Aber nicht alles ist optimal.
«Ein Taylor Swift-Abend mit dem Collegium? Ja, natürlich – wenn die Qualität stimmt! Denn wir wollen unser Publikum nicht verärgern.»
Jan Schultsz, Chefdirigent Collegium Musicum Basel
Konkret?
Die Förderung und die Unterrichtssituation ist beispielsweise in Baselland besser als in Basel-Stadt. Dabei gibt es in der Stadt so viele Talente. Da werden wir weiter Druck machen. Mit dem CMB können wir mit der Talentförderung einen positiven Beitrag leisten. Dazu gehört ein grossartiges Format: Die Vorkonzerte mit der Musikschule. Diese sind gratis. Da kommt ein junges Publikum, auch um die eigenen Kollegen zu hören. Und in Dezember starten wir dann ein neues Projekt mit «Basel Talents». Dann treten Talente der Sportklassen als Solist mit dem CMB auf.
Aktuell nimmt die Kulturberichterstattung in den Medien dauernd ab.
Eine Katastrophe. Gerade wenn ein Orchester nicht in der Champions League spielt, sondern wie das CMB mittlerweile in der Europa League, ist es sehr schwierig, die Aufmerksamkeit der Presse zu bekommen. Und beim Radio gibt es auch immer weniger Möglichkeiten. SRF ist sehr wichtig für uns Musiker.
Weshalb ist das so wichtig?
Musik ist Erziehung, Erziehung für uns alle. Musik wird überleben. Und das verstehen die Medien und vor allem die Politiker immer weniger. Aber das ist nicht nur in Basel so, sondern in der ganzen Schweiz, in Holland, in den USA. Sie tun so, als wären wir Museen, die altes Zeug verbreiten.
Wenn das CMB wenig in den Medien erscheint, erreichen Sie dann genügend Nachwuchs?
Absolut. Für jede Stelle bewerben sich 50 bis 60 Personen. Aktuell passiert ein Generationswechsel im Orchester. Wir haben viele junge Spitzenleute engagiert. Dazu leisten wir uns Probespiele, auch wenn das teuer ist. Qualität wirkt sich aus. Wir haben etwa eine junge, erste Hornistin – Spitze! –, und weil sie streng ist, spielt seither die ganze Horngruppe deutlich besser.
Könnten Sie sich vorstellen, um die Popularität zu steigern, einen Taylor Swift-Abend mit dem CMB zu gestalten?
Ja, natürlich – wenn die Qualität stimmt! Denn wir wollen unser Publikum nicht verärgern. Es gibt auch in dem Bereich ganz tolle Leute, die wir integrieren sollten. Unser Publikum verjüngt sich. Wir müssen diesen Weg gehen. Wir machen das ein Stück weit bereits mit unserem Eröffnungskonzert nächstes Jahr.
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Jan Schultsz
Jan Schultsz (1965 in Amsterdam) ist Dirigent, Pianist und Professor mit Schwerpunkt auf Liedbegleitung und Kammermusik. Seine Ausbildung erhielt er unter anderem in Amsterdam, Basel, Bern und Zürich, wo er bei namhaften Lehrern wie Jan Wijn, Bruno Schneider, László Gyimesi und Manfred Honeck studierte.
Als Hornist musizierte er in renommierten Orchestern wie dem Concertgebouw Orchestra, dem Sinfonieorchester Basel und dem Freiburger Barockorchester. Zu seinen musikalischen Partnerinnen und Partnern zählen international gefeierte Künstlerpersönlichkeiten wie Cecilia Bartoli, Werner Güra, Rachel Harnisch, Daniel Behle sowie die Brüder Gautier und Renaud Capuçon.
Als Dirigent arbeitete er mit zahlreichen europäischen Orchestern zusammen – darunter das Tonhalle-Orchester Zürich, das Mozarteumorchester Salzburg und das Wiener Kammerorchester – und leitete von 1999 bis 2009 das Orchestre de Chambre de Neuchâtel.
Ein besonderes Anliegen ist ihm die Wiederentdeckung vergessener Opern von Komponisten wie Rossini, Bellini und Verdi; 2014 dirigierte er die Weltpremiere der vollständigen Fassung von Rossinis La gazzetta an der Opéra Royal de Wallonie in Lüttich. Jan Schultsz ist Gründer der Opera St. Moritz und des Engadin Festivals, Präsident der Brassweek Samedan sowie Dozent für Kammermusik und Liedgestaltung an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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